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Klaus Weinhold

Struktur und Bedeutung

Zwei Denkrichtungen - vereinfachend - bestimmen auch die Diskussion um die Rezeption Elektronischer Musik: Der "Strukturalismus" und die "Hermeneutik". Der strukturalistische Ansatz sucht nach objektiven Gesetzen, er kann daher sozusagen ohne Bedeutung und ohne Subjekt auskommen, der hermeneutische Ansatz beinhaltet die Kunst möglicher Ausdeutung, Bedeutung, Sinngebung für das Subjekt, dieses ist der Mensch. Der hermeneutische Ansatz läßt sich leiten von der Voraussetzung, den Menschen und seine Tätigkeiten (z.B. als Musikproduzent) als bedeutungsstiftendes Subjekt zu verstehen. Man muß und kann natürlich fragen, ob diese Bedeutungen nur als gesellschaftliche Praxis infolge Übereinkunft (konventionell) exisitieren, oder ob sich diese quasi objektiv als übergreifend geschichtslos manifestieren. Bedeutung kann nun auch in zweierlei Hinsicht aufgefaßt werden: Die strukturelle Bedeutung versucht, Grundelemente und deren Kombinationsregeln zu bestimmen, die hermeneutische Bedeutung geht hingegen vom Subjekt, von dessen Geschichte und Tradition, eben vom Menschen und dessen Fähigkeiten aus. Die klassische musikalische Hermeneutik hat als Ausgangsebene, daß nicht musikalische Prozesse wie Natur, Gefühle, Stimmungen, seelische Abläufe in Musik ausgedrückt werden können. Der Musik wohnt dann ein allgemein menschlicher Inhalt inne. Die geschichtliche Linie geht von der antiken Ethoslehre bis zur klassischen Ausdruckskästhetik, die noch heute weitgehend die Musikrezeption beherrscht. Musikalischen Formeln und Formteilen wird hier ein emotionaler Gehalt zugeordnet. Die Musik ist abhängig von einem menschlichen Kategorialsystem des Erlebens und Fühlens. Eine Grundkategorie ist z.B. der Prozeß "Spannung und Lösung": Dominante - Tonika, Vorder- Nachsatz, Beginn - Ende, leise - laut, Hebung - Senkung, betont - unbetont. Das Hören und Rezipieren Elektronischer Musik, zumindest solcher, die sich traditionellen Mustern verschließt, ist über den hermeneutischen Ansatz kaum anzugehen. Für die Elemente Elektronischer Musik fehlen bisher alle konventionellen Standards, fehlt jede lehr- und lernbare Grammatik, in der man sich verstehen und damit verständigen kann. Es fehlt jede Kommunikationsmöglichkeit. Es ist auch in der Elektronischen Musik so, daß der Ausdrucksgehalt gesucht wird. Die Ausdrucksmodelle von Musik liegen eben in allgemeinen Erfahrungen und konventionalisierten kulturellen Mustern, die vielleicht sogar inzwischen in der zweiten Natur zumindest des abendländischen Menschen liegen. Für die Elektronische Musik kann es nur von Vorteil sein, von diesen soziokulturellen Verstehensmustern gänzlich abzugehen und das "Verstehen" auf eine ganz andere Ebene zu lenken: der von immanenten syntaktischen Verknüpfungen von Elementen, deren bedeutungslose Kenntnisnahme und Wahrnehmung.
Die Syntax der Elektronischen Musik wird, falls sie überhaupt erstellbar ist, zunehmend komplexer, damit kaum noch erkennbar und nachvollziehbar. Die syntaktischen Funktionen müssen sich deswegen auf elementare Kategorien wie "gleich - ungleich, ähnlich - anders, verändert, komplex - weniger komplex, elementar - kompliziert, anhörbar - unerträglich" beschränken.
Hinzu kommt, daß die klassische Musikpraxis etwas ganz Wesentliches nebenbei herausgebildet hat, die sogenannte "Segmentierung" des akustisch komplexen Gefüges in ein anderes Medium: die Partitur. Beim Hören und der Rezeption geht man von dieser visuellen Elementarisierung und Klarstellung aus, rein physikalische Größen (z.B. Frequenz) werden hier in intellektuell nachvollziehbare Wahrnehmungsparameter (z.B. Noten) verwandelt. Diese Größen sind konventionalisiert, tradiert, lernbar eindeutig und geschichtlich bedeutungsvoll.
Für die Elektronische Musik gibt es solche Segmentierungsmethoden noch nicht, es gibt noch überhaupt keine Methode, etwa die grenzenlosen Klangmöglichkeiten auf einen eindeutig verwendeten Zeichenvorrat zu reduzieren und damit auch zu tradieren.
Die Frage ist, ob sich also eine Theorie, eine Konvention, ein Ausdruckscharakter, eine Bedeutung von elektronischen Klängen schaffen läßt, oder ob dieser "physikogene" Zugang zu Soundphänomenen sich grundsätzlich einer Eindeutigkeit und damit Bedeutung entzieht.
Letztlich steht daher die Frage nach der Bedeutung von etwas oder von der Welt schlechthin im Raum. Ein Mensch kann einem etwas bedeuten, ein Baum, die Welt als Ganzes, sie deutet vielleicht auf etwas hin, zunächst einmal ist sie - ganz einfach - da. 
So sind Elektronische Klänge zunächst einmal da, werden angeboten, gebieten ein Zuhören und haben zumindest die Bedeutung, daß sie sich uns vorstellen, sich vor unsere persönliche Bedeutung und unsere Bedeutungen stellen. Deshalb sind heute die Instrumente als Werkzeuge "bedeutender" als die Menschen: Die Emissionen und Emanationen dieser Instrumente deuten hin auf Grundlagen, Substanzen, Elemente. Ob sich freilich dieser Bedeutung eine Bedeutung zumessen läßt, bleibt fraglich, zumindest für den abendländischen Raum, der sich so bedeutungsvoll auf die Bedeutung der Bedeutungen der konventionellen Bedeutung (von bedeutender Musik) festgelegt hat.

 

 


 


1. Teil: Die Prophezeiung eines "Technikers" - ZeM  Nr. 4 (I/1991)
2. Teil: Das elektrisch manipulierte Klavier - ZeM  Nr. 6 (1/1992)
3. Teil: Der elektrisch erzeugte Klang - ZeM  Nr. 10 (März 1993)
4. Teil: Musik aus Luft - ZeM  Nr. 11 (Juni 1993)
5. Teil: Sphärenklänge - ZeM  Nr. 14 (April 1994)
6. Teil: Saitenspiele (1) - ZeM  Nr. 15 (September 1994)
6. Teil: Saitenspiele (2) - ZeM  Nr. 16 (Januar 1995)

 


 


 



 

Rückseite


© ZeM e.V. | ZeM Mitteilungsblatt Nr. 6 - 1/1992

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